2017 gibt es kein großes wissenschaftliches Jubiläum zu feiern; es gibt auch keine Jahreswidmung mit wissenschaftlichem Bezug. 2017 steht dafür ganz im Zeichen der religiösen Reformation. Vor 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, soll Martin Luther seine berühmten 95 Thesen an der Schloßkirche von Wittenberg angeschlagen haben. Von der ganzen Sache mag man halten was man möchte; unbestreitbar ist allerdings dass Luther mit seiner Reformation den Verlauf der Weltgeschichte maßgeblich beeinflusst hat. Insofern ist es auch angebracht und gerechtfertigt, sich 500 Jahre danach ausführlich damit zu beschäftigen.
Die religiösen Debatten überlasse ich anderen (und diese anderen dürfen sich gerne auch mit den vielen schlechten Charaktereigenschaften Luthers auseinandersetzen). Ich möchte mich heute mit der Verbindung zwischen Luther und einem anderen seiner prominenten Zeitgenossen beschäftigen: Nikolaus Kopernikus.
Der polnische Astronom veröffentliche im Jahr seines Todes 1543 das Werk “De revolutionibus orbium coelestium” in dem er ein Universum beschrieb, in dessen Zentrum sich die Sonne befand und nicht die Erde. Das heliozentrische Weltbild des Kopernikus entsprach zwar nicht unbedingt der Realität, war aber ein großer Schritt vorwärts zu einem korrektem Verständnis des Kosmos. Der Streit, der darüber zwischen Wissenschaftlern und der Kirche ausbrach, ist bekannt und gut dokumentiert. Aber nicht nur der Papst in Rom hat sich gegen das heliozentrische Weltbild ausgesprochen. Auch Martin Luther hatte einiges zu Kopernikus zu sagen:
“”Dieser Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren,”
wird Luther zitiert. Und als Argument für die Fehlerhaftigkeit des heliozentrischen Weltbildes führt Luther die Bibel an: “Aber Josua hieß die Sonne stillzustehen und nicht das Erdreich.”
Diese Geschichte über Luther und seine Verhöhnung des Kopernikus hört man oft und ich muss zugeben, dass ich bis vor kurzem selbst noch davon überzeugt war, dass sie der Wahrheit entspricht. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein!
Das Kopernikus-Zitat stammt aus einer von Luthers Tischreden und soll 1539 gefallen sein. In gedruckter Form liegen diese Rede aber erst Jahrzehnte später vor und Johannes Goldschmidt, der das 1566 getan hat, war damals nicht dabei, als Luther die Rede gehalten haben soll. Im lateinischen Originaltexte der Tagebücher von damals tatsächlich anwesenden Zeitzeugen findet sich nichts über Luthers Aussagen zu Kopernikus; es finden sich eigentlich gar keine Äußerungen des großen Reformators über die Fortschritte in der Astronomie.
Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert von der Universität Halle nennt die Geschichte von Luthers Konflikt mit Kopernikus sogar eine “handgreifliche Geschichtslüge”. Er hat die Episode ausführlich erforscht und eine Facharbeit publiziert (die allerdings nicht frei zugänglich ist und die ich daher auch nicht komplett gelesen habe). Er weist nach, dass die antikopernikanische Einstellung Luthers viel eher eine Erfindung katholischer Historiker des 19. Jahrhunderts war. Franz Beckmann und Franz Hipler machten Luther zu einem Gegner der wissenschaftlichen Revolution des 16. Jahrhunderts; vermutlich um die Position der katholischen Kirche zum Heliozentrismus nicht ganz so schlecht aussehen zu lassen. Und als dann 1884 das Luther-Zitat auch in der wichtigen Kopernikus-Biographie von Leopold Prowe auftauchte, war es quasi offiziell. Aber trotzdem falsch – so geht’s eben oft in der Geschichte…
Wer sich allerdings tatsächlich und nachweislich zum heliozentrischen Weltbild geäußert hat, war Luthers Weggefährte Philipp Melanchthon. Der “Lehrer Deutschlands” hat sich zu allem möglichen geäußert und in seiner Schrift “Initia doctrinae physicae” (die zwar im lateinischen Original frei zugänglich ist, in deutscher Übersetzung aber kaum erhältlich) auch über die kopernikanische Lehre. Darin bezeichnete er Kopernikus’ Arbeit nur als Wiederholung dessen, was schon Aristarch von Samos in der Antike postuliert hatte. Kopernikus konnte von Aristarchs Arbeit allerdings nichts wissen, denn darüber wird nur in den Werken von Archimedes berichtet und die wurden erst ein Jahr nach dem Tod von Kopernikus auf Latein veröffentlicht und zugänglich gemacht.
Was das astronomischen Weltbild angeht, gab es also keinen dramatischen Konflikt zwischen den religiösen und wissenschaftlichen Reformatoren. Was nicht heißt, dass die Protestanten im Laufe der Zeit nicht auch ihre Probleme mit den Erkenntnissen der Wissenschaft hatten. Oder immer noch haben: Es sind auch die religiösen Erben Martin Luthers die – vor allem in den USA – einen fundamentalistischen Kreationismus vertreten oder den Klimawandel ignorieren.
Die Spannungen zwischen Kirche und Wissenschaft werden so schnell nicht verschwinden. Aber eines ist sicher: Die Erkenntnisse der Forscherinnen und Forscher haben die Welt in den letzten 500 Jahren mindestens so stark (wenn nicht sogar stärker) beeinflusst wie die Aktionen des religiösen Reformators Luther.